Pfarrkolumne

Herbst­reise

Die Pfarr­ko­lumne für den Okto­ber ist da. Tobias Zehn­der lädt Sie ein auf einen medi­ta­ti­ven Spa­zier­gang in den Herbst.

Ich stelle mir vor, wie eine Fremde aufbricht. Frühmorgens ist sie durch ein leeres Dorf hinauf bis zu jener Anhöhe gelaufen, die bald auf weites Feld führt. Als sie eben vor die Türe trat, war ihr kalt. Und über ihr war ein Himmel so grau wie die Strassen – und vielleicht so grau wie in ihr selbst. Nur noch eine Weile, dann ist Herbst.

Jetzt lässt sie das letzte Häuschen hinter sich. Der Kies auf dem Weg knistert. Die Felder riechen feucht, erdig. Erste Nebelschwanden ziehen ins Land und belegen die Welt mit einer Ruhe, wie man sie unter den Menschen Seines Wohlgefallens nur selten findet. Die Schritte werden langsamer.

Schon ragen erste Baumwipfel über den Horizont. Sonnenstrahlen streifen ihre Spitzen, dringen durch das Laub und ziehen weite Linien des Lichts. Lag der Wald nicht gestern noch in sattem Grün? Jetzt sind die Blätter bleiern und bunt geworden. Warme Farben steigen aus dem Nebelmeer. Die Bäume sind freundlich anzusehen. Manche wie ein Busch, der brennt und doch nicht verbrennt. Andere sind schon kahl, haben ihr Kleid wie einen Teppich ausgebreitet.

Der Fremden muss sein, als beträte sie in etwas Heiliges. Hohe Baumsäulen ziehen den Blick hinauf. Karge Kronen stemmen Himmelsgewichte, halten Wolken und Nebel fern – innen und aussen. Fremde Geräusche dringen nur noch spärlich hinein. Der Wald hat seine eigene Musik. Sie ist nicht nur mit den Ohren schön anzuhören.

Das Nadelholz duftet wie Heimat und das Fremde an der Frau gleitet zu Boden wie ein altes Kleid. Ganz so, als wäre sie eben jetzt erst erwacht und zu sich gekommen. Auch der Wald legt sich nur scheinbar in Schlummer. Der nahende Winterschlaf ist in der ewigen Wiederkehr der Welt kaum mehr als ein tiefer Atemzug. Unter dem farbigen Vlies birgt der Wald das Versprechen für einen neuen Sommer.

Im Herbst bricht die Zeit um. So augenscheinlich wie sonst kaum. Werden und Vergehen geben sich die Ehre. Wie kommt es, dass mich diese Tage sowohl mit Wehmut wie auch Frieden erfüllen?

Mag sein, weil sie mich bergen mit Wolken und Nebel und Blättern. Ich bin eingefasst in der Natur. Der Trubel des Sommers verebbt, die Hektik der Vorweihnachtszeit lässt noch auf sich warten.

Vielleicht fühle ich mich verstanden. In der Schwere des Herbsts hat meine eigene Schwermut ihr Echo. Die Kunst ist, sich nicht darin zu verlieren. Das farbige Vlies im Wald, eine heisse Schokolade und freundliche Worte helfen mir dabei.

Am allermeisten mag ich den Herbst, weil er mich demütig macht. Ohne mein Zutun wälzt die Welt sich um. Und ich kann nur staunen und hören und damit leben lernen. Da ist ein Grösseres, das mich und Dich umfasst. Etwas, das erdet und hilft, mir selbst weniger fremd zu sein. Im Herbst kann ich ihn deutlich spüren, diesen Gott, der alles durchdringt.

Tobias Zehnder