Pfarrkolumne

Ein ers­tes Wort

In der April-​Kolumne von Tobias Zehn­der dreht sich alles um erste und letzte Worte.

Es ist der 20. Juli 1923 als in der mexikanischen Stadt Parral der Freiheitskämpfer Pancho Villa auf offener Strasse von mehreren Kugeln getroffen wird. Das Gerücht hält sich hartnäckig, der Revolutionär habe einem anwesenden Journalisten folgende letzten Worte gesagt: «Lassen Sie es nicht so enden. Sagen Sie, ich hätte etwas wichtiges gesagt.»

Sehr glaubwürdig ist die Geschichte nicht. Aber sie zeigt, wie wichtig letzte Worte sind. In vielen Trauergesprächen habe ich erlebt, wie viel Gewicht ihnen beigemessen wird, wie gut sie abgewogen und im Herzen aufbewahrt werden.

Bei grossen Künstlern oder Menschen von Welt erhofft man sich gar ein Konzentrat ihrer gesammelten Weisheit. Erstaunlicherweise ist das eher selten der Fall. Ludwig van Beethoven bedauerte die viel zu rasch verstrichene Zeit. Goethe bat lediglich darum, mehr Licht in das Zimmer zu lassen.

Gerne werden grossen Persönlichkeiten auch nachträglich grosse Worte in den Mund gelegt. Wer in der Bibel nachschaut, wird feststellen, dass die Evangelisten Jesus Christus gar mehrere letzte Worte zugestanden.

Auch abseits vom Lebensende sind letzte Worte nicht unerheblich. Wer kennt nicht einen Menschen, der «immer» das letzte Wort haben muss? Und gibt es nicht auch Momente, in denen wir selbst gerne das letzte Wort hätten?

Denn das letzte ist ein mächtiges Wort. Es hat etwas Endgültiges. Wer das letzte Wort hat, hat Recht – jedenfalls dem Gefühl nach. In der Realität wird sich das Gegenüber vermutlich das wirklich letzte Wort nur denken: Der Klügere gibt nach.

Ich frage mich, warum wir den letzten Worten so viel Bedeutung zumessen. Denn letzten Endes sind es alles trennende Worte. Letzte Worte beenden eine Diskussion genauso wie Freundschaften. Letzte Worte eröffnen Kriege. Letzte Worte stehen am Ende des Lebens.

Sind die ersten Worte nicht die viel Wichtigeren? Die ersten Worte nach einem Streit. Die ersten Worte nach einer Zeit des Anschweigens. Die ersten Worte nach grosser Trauer, schweren Enttäuschungen und Zeiten der Sprachlosigkeit.

Erste Worte mögen nicht den Nimbus des Endgültigen geniessen, dafür den Zauber des Neuanfangs. Wer ein erstes Wort spricht, geht auf andere zu. Wer ein erstes Wort spricht, lädt dazu ein, ein zweites zu machen, ein drittes, ein viertes und so weiter.

Mit einem ersten Wort fängt alles an. So ist das auch in der Bibel. In der ersten Schöpfungsgeschichte entsteht die Welt allein durch Gottes Wort. «Und Gott sprach …». Wo erste Worte gesprochen werden, blüht Leben auf. Wo erste Worte gesprochen werden, ist Heilung und Versöhnung möglich.

Es ist uns zu wünschen, dass wir mit dem Anfangen nie zu einem Ende kommen. Bei den Menschen genauso wenig wie bei Gott. Und wobei könnten Sie heute neu anfangen?

Tobias Zehnder