Pfarrkolumne

Der innere Schatz im Gepäck

In der Januar-Kolumne fragt Martin Stüdeli nach dem Reichtum des Rückblicks.

Ein Jahr vergeht, ein Neues beginnt. So nah beieinander liegen Anfang und Abschluss. Es ist, als würden sie einander folgen, wie das Ein- und Ausatmen, das uns am Leben hält. Und auch das Leben selbst, ob nun ein neues Jahr beginnt oder nicht, ist voller Neuanfänge und Abschlüsse.

Vielleicht kann man sogar sagen, dass ein richtiger Neuanfang erst dann gelingt, wenn man einen richtigen Abschluss gemacht hat und sich dem Vergangenen noch einmal zuwendet. Wenn man noch einmal zurückschaut, bevor man weiter geht. Denn das Vergangene, auch wenn wir es verabschieden oder loslassen, nehmen wir immer irgendwie mit. Das tun wir auch in einer Zeit, in der häufig die Aufmerksamkeit ganz besonders auf den Anfang und das Neue gelenkt wird: neue Chance, neues Produkt, neue Serie, neue Technologie, neue Ausbildung, neue Anstellung, neue Beziehung, neuer Lebensabschnitt …

Das Neue scheint uns zu locken. Doch in der Rückschau lebt das Vergangene noch einmal auf. Wir werden dankbar gegenüber dem Guten – traurig oder ärgerlich gegenüber den Herausforderungen, denen wir uns stellen mussten. Oder ihre Bewältigung erfüllt uns mit Stolz und Dankbarkeit. So gehen wir weiter und nehmen das Vergangene mit als Erfahrung, die uns geformt hat. Als unseren inneren Schatz, den uns niemand nehmen kann.

Mit diesem inneren Schatz richten wir unsere Aufmerksamkeit auch weniger auf Neues, das uns von aussen angeboten wird, sondern spüren, wie wir selbst bereit werden, Neues entstehen zu lassen. Wir gewinnen eine neue Sichtweise oder Einstellung. Wir finden zu neuen Ideen und Interessen. Wir werden offen für das Leben.

Wie schön wäre es, wenn auch gesellschaftlich mehr aus dem Reichtum der Erfahrungen, den guten und schweren, entschieden würde. Wenn nicht vergessen ginge, was war. Wir wären sicher weniger anfällig für falsche Versprechen und kurzfristige Lösungen. Das jedenfalls wünsche ich uns allen im kommenden Jahr. Persönlich und gesellschaftlich weiterzugehen mit dem inneren Schatz unserer Erfahrung. «Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz» Mt 6,21. Ich wünsche uns allen ein Jahr mit viel Herz und innerem Reichtum!

Martin Stüdeli